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Kapitel 6

Author: Alyssa J
Der Tag, an dem ich mich offiziell darauf vorbereitete, in das geheime Forschungsinstitut einzutreten, war mein dritter Tag nach meiner Ankunft im benachbarten Rudel.

Der Direktor des Instituts, Herr Chen, lud uns alle zum Mittagessen ein. Nach mehreren Runden Alkohol waren alle etwas beschwipst. Am Ende hatten viele, die um den Tisch saßen, gerötete Augen.

Direktor Chen sagte uns, wir sollten noch ein letztes Mal unsere Familie oder Freunde anrufen und fügte dann ernst hinzu: „Wenn ihr Angst habt oder zögert, ist es noch nicht zu spät, um auszusteigen.“

Die Leute um mich herum holten ihre Handys heraus, um zu telefonieren, und gelegentlich durchbrachen gedämpfte Schluchzer die Stille.

Ich saß lange still da, bevor ich schließlich mein Handy herausholte und Facebook öffnete. Ich stellte fest, dass Axel seinen Status aktualisiert hatte. Sie hatten Willow mit in die Karibik genommen.

Auf den Fotos sah das Meer atemberaubend schön aus, wie eine riesige verschüttete Farbpalette.

Willow trug das wunderschöne Mondigöttinenkleid. Sie blickte von dem endlosen Strand zurück in die Kamera und ihre Augen strahlten vor Glück.

Dann unterbrach Direktor Chens Stimme meine Gedanken: „Ember, ruf jemanden an! Wer weiß, wie viele Jahre vergehen werden, bis du wieder eine solche Chance bekommst.“

Ich umklammerte mein Handy fest, bis meine Knöchel weiß wurden. Nach einer Weile wählte ich endlich die Nummer. Aber es war leider Willows fröhliche Stimme, die antwortete: „Schwesterherz, brauchst du etwas?“

Meine Stimme klang heiser: „Wo sind sie?“

Willow antwortete fröhlich: „Du meinst meine Brüder? Sie haben mir gesagt, dass ich ans Handy gehen soll. Sie sagten, sie hätten keine Zeit zum Reden und ich solle nur eine Nachricht entgegennehmen.“

Aus dem Hintergrund hörte ich Axels laute Stimme: „Schalte dein Handy aus und komm her!“

Willows Stimme klang fröhlich. Sie gab sich unschuldig, konnte aber aufgrund ihres jungen Alters ihren Triumph und ihre Zufriedenheit nicht richtig verbergen. „Schwesterherz, was wolltest du überhaupt? Ich kann gerne eine Nachricht weitergeben. Übrigens, du hast doch eine Schachtel zu Hause abgestellt, oder? Meine Brüder sagten, sie bräuchten die Geburtstagsgeschenke von dir nicht. Also habe ich die Schachtel weggeworfen. Du bist doch nicht böse, oder?“

Mein Herz wurde allmählich ruhig und ich fühlte mich endlich frei von jeglicher anhaltenden Bindung. Daher sagte ich eifach trocken: „War nichts Wichtiges.“ Dann beendete ich das Gespräch.

Nachdem alle ihre Anrufe beendet und zu Mittag gegessen hatten, betraten wir das Forschungsinstitut. Nur eine Tür trennte uns nun von der Außenwelt.

Ich entfernte meine SIM-Karte, zerbrach sie in zwei Hälften und warf sie in den Mülleimer. Dann trat ich durch die Tür, ohne auch nur einmal zurückzublicken.

Nach nur einer Woche in der Karibik beschloss Axel, dass sie nach Hause zurückkehren sollten.

Weil das Vollmondfest näher rückte, bestand Willow darauf, dass sie über die Feiertage blieben, da es in der Karibik besondere Feierlichkeiten geben würde.

Axel wollte instinktiv ablehnen. Obwohl das Rudel nun auch Ferien hatte und er für dieses Jahr nicht mehr arbeiten musste, fühlte es sich aus Gründen, die er nicht erklären konnte, an, als würde auf dieser Auslandsreise etwas fehlen.

Obwohl sie nur sieben Tage weg gewesen waren, kam es ihm vor, als hätten sie eine viel längere Zeit durchgestanden. Daher versuchte er, sich eine gute Ausrede auszudenken, um nach Hause zurückkehren zu können.

Bevor er eine finden konnte, sprach Ryker sanft: „Wir können ein anderes Mal wiederkommen, wenn es dir hier so gut gefällt. Ich habe Rudelangelegenheiten zu erledigen, die nicht länger aufgeschoben werden können.“

Willow, die noch immer von der Aufregung der Reise eingenommen war, protestierte: „Aber du hast Ember doch gerade erst gesagt, dass du während des Vollmondfestes keine Rudelangelegenheiten erledigen würdest!“

Ryker schwieg und sah schuldbewusst aus dem Fenster.

Willow verzog das Gesicht, ließ ihr neues Stofftier fallen und rannte hinaus.

Axel sah den Teddybären an, der auf dem Boden liegen geblieben war. Irgendwie erinnerte er sich daran, dass dies genau der Stil war, den Ember als Kind geliebt hatte. Wie war Ember gewesen, als sie noch klein war?

Axel versuchte sich zu erinnern, stellte jedoch fest, dass ihm kaum etwas einfiel. Er konnte sich nur daran erinnern, wie Ember geschrien und geweint und Willow aufgefordert hatte, zu gehen.

Dann sah er die erwachsene Ember vor sich, die mit der Zeit immer stiller und zurückgezogener geworden war.

Sie wollte nicht mehr mit ihm und Ryker reden, behauptete immer, sie sei in der Uni beschäftigt, und kam selten nach Hause.

Wenn Willow gelegentlich ihre Sachen beschädigte, verlor sie zuerst völlig die Kontrolle, fasste sich dann aber schnell wieder und sagte immer ruhig und kühl: „Das macht nichts.“

Sie zog es zunehmend vor, im Wohnheim zu bleiben. Manchmal traf Axel sie auf dem Campus.

In einem Moment lachte sie noch mit ihren Kommilitonen, aber im nächsten, als sie ihn erblickte, wurde ihr Gesichtsausdruck sofort still und unbehaglich.

Axel hob das Stofftier vom Boden auf. Plötzlich hatte er das Gefühl, etwas Wichtiges verloren zu haben. Wann hatte er sie verloren? Die eigensinnige, liebevolle Ember. Wann war sie verschwunden?

Rykers etwas kalte Stimme unterbrach seine Gedanken: „Ich fliege heute Abend zurück. Wenn Willow noch bleiben und weiter Spaß haben möchte, kannst du mit ihr hierbleiben.“

Axel blickte abrupt auf und sah etwas wie Unbehagen in Rykers Augen. Es war das gleiche Unbehagen, das Axel in seinem eigenen Herzen spürte.

Fast instinktiv und eindringlich antwortete Axel: „Ich fliege auch heute Abend zurück.“

Ryker sagte nichts mehr und packte schweigend seinen Koffer.

Am nächsten Abend landeten sie wieder in Nordstadt.

Während der gesamten Rückreise pochte Axels Stirn aus irgendeinem Grund unaufhörlich.

Als sie zu Hause ankamen, war Ember nirgends zu sehen.

Aber die Haushälterin kam heraus, um sie zu begrüßen. Axel reichte ihr seinen Mantel und fragte beiläufig, als wäre es keine große Sache: „Ist Ember noch nicht zurückgekommen?“
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