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Kapitel 4

Author: Alyssa J
Seit ich mich erinnern konnte, waren meine Eltern selten zu Hause gewesen. Sie hatten fast ihr ganzes Leben der Kräuterforschung gewidmet. Oft waren sie ein Jahr oder länger unterwegs gewesen.

Außer den angeheuerten Omegas hatten sich nur meine acht Jahre älteren Zwillingsbrüder um mich gekümmert.

Als ich sechs Jahre alt war und gerade in die Grundschule kam, wurde ich von meinen Klassenkameraden gemobbt, weil ich kleiner und schwächer war als sie.

Meine Eltern waren Tausende von Kilometern entfernt, also kam ich nach Hause und weinte unter meiner Bettdecke.

Der vierzehnjährige Axel kam spät in der Nacht in mein Schlafzimmer, um nachzusehen, ob ich meine Bettdecke weggetreten hatte. Als er die Decke zurückzog, sah er mein tränenüberströmtes Gesicht.

Er hielt mich fest und wischte mir die Tränen weg, so wie es meine Mutter immer getan hatte. Während er mir den Rücken tätschelte, tröstete er mich: „Es ist okay. Dein großer Bruder wird dich beschützen, Ember.“

Am nächsten Tag ging er zu meiner Schule und verprügelte all diejenigen, die mich gemobbt und schikaniert hatten. Die Lehrer erwischten ihn und bestraften ihn, indem sie ihn als Sparringspartner für die Elite-Alpha-Wölfe einsetzten.

Als ich ihn nach der Schule nicht finden konnte, rannte ich zu seinem Campus. In der Trainingsarena schlugen ihn jene Alpha-Wölfe, bis sein Gesicht blutüberströmt war. Meine Augen wurden rot vor Sorge.

Aber er rannte mit dem Gesicht voller Wunden vom Trainingsgelände und lächelte, um mich zu beruhigen: „Das ist nichts. Ich liebe Kampftraining. Wenn ich damit fertig bin, werde ich noch stärker sein und meine kleine Prinzessin noch besser beschützen können.“

Nach seinem Training gingen wir zusammen nach Hause. Als wir ankamen, hatte der Omega frei. Ryker hatte bereits ein warmes, leckeres Essen vorbereitet. Als wir die Tür öffneten, erfüllte der wunderbare Duft das ganze Haus.

Der Teenager holte Schüsseln und Essstäbchen aus der Küche und streckte den Kopf heraus, um zu sagen „Wasch dir die Hände! Das Abendessen ist fertig.“

Ryker war immer still, aber sanft und aufmerksam gewesen. Immer wenn ich zu wild gespielt, mich ernsthaft verletzt und versuchte hatte, mich heimlich nach Hause zu schleichen, ohne jemandem etwas zu sagen,

rollte er mir stillschweigend meine Ärmel hoch und versorgte meine Wunden.

Wenn er dann fertig war, sah er mich meist an, als wollte er etwas sagen. Als er aber sah, wie ich mir nervös auf meine Lippe biss, seufzte er nur leise. Dann tätschelte er mir den Kopf und sagte immer: „Sei beim nächsten Mal vorsichtiger!“

Als Kind war ich schelmisch und lebhaft und lernte nie wirklich, vorsichtig zu sein. Also verband er meine Wunden ein ums andere Mal. Und jedes Mal, wenn er meinen panischen Gesichtsausdruck sah, seufzte er und sagte nur: „Sei beim nächsten Mal vorsichtiger.“

Viele Jahre lang, weil unsere Eltern meist nicht zu Hause waren, waren sie für mich sowohl Brüder als auch Väter, während ich aufwuchs.

Dann wurde ich zwölf und sah die Karibik im Fernsehen.

Axel versprach mir, mich ans Meer mitzunehmen, und Ryker buchte Tickets für uns drei. Doch am folgenden Tag starben unsere Eltern plötzlich.

Vor jener Tragödie hatten meine Eltern Kräuter entwickelt, die die Selbstheilungskräfte von Werwölfen stärken sollten. Sie standen kurz vor dem Durchbruch und planten, jene Kräuter zu niedrigen Preisen an Werwölfe weltweit zu verkaufen.

Als dies bekannt wurde, wurden sie zum Ziel des Hasses großer Pharmaunternehmen. Der Brandstifter setzte ihr Forschungslabor am frühen Morgen in Brand.

Als Axel, Ryker und ich die Nachricht erhielten und zum Labor eilten, fanden wir nur noch zwei verkohlte Leichen vor. Während sie verbrannt waren, hatte sich ein tapferer Krieger in das Inferno gestürzt, um sie zu retten, war jedoch ebenfalls bei lebendigem Leib verbrannt.

Jener Krieger hinterließ ein Waisenkind. Sein Kind war noch nicht einmal ein Jahr alt, als er starb, und die Mutter des Kindes war auch bereits verstorben.

Axel und Ryker verbrachten sechs anstrengende Jahre auf der Suche, bis sie das Kind schließlich in einem Waisenhaus fanden.

Aber im Leben gab es schon immer seltsame Zufälle. Sechs Monate nachdem die zwölfjährige Willow ins Rudelhaus gebracht worden war, ging ich mit Klassenkameraden zum Abendessen und traf dort die Leiterin des Waisenhauses, die mir unter Tränen und nach zu viel Alkohol ein Geständnis machte.

Ich erfuhr, dass die echte Willow im Alter von nur drei Jahren im Waisenhaus an einer Herzkrankheit gestorben war.

Die „Willow”, die zu uns gekommen war, war ein anderes Waisenkind mit einer Herzkrankheit, dessen Behandlung nicht bezahlt werden konnte. Der Direktor hatte Mitleid mit ihr gehabt und ließ sie den Platz der verstorbenen Willow einnehmen, damit meine Brüder für ihre medizinische Versorgung aufkommen würden.

Ich eilte nach Hause und fand Willow wieder dabei, meine Sachen zu zerstören. Es handelte sich um mein letztes verbliebenes Familienfoto, auf dem wir alle zusammen zu sehen waren. Der Rahmen fiel zu Boden und das Glas zerbrach in tausend Stücke.

Wie schon unzählige Male zuvor hockte sich Willow hin, um die Scherben aufzuheben, hielt dann ihre verletzte Hand hoch und sah Axel mitleidig an, damit er sie tröstete.

Wütend riss ich sie weg, verlor die Kontrolle und schrie: „Verschwinde!“

Zum ersten Mal verdunkelte sich Axels Gesicht mir gegenüber. Sogar der sonst so ruhige und sanfte Ryker sah enttäuscht aus: „Ember, deine Arroganz und Eigensinnigkeit müssen aufhören!“

Ich erzählte ihnen alles, was ich gehört hatte. Dann sah ich Willows panischen Gesichtsausdruck. Ich dachte, da ihre Krankheit ja geheilt worden war, sollte eine Betrügerin nicht weiterhin mein Zuhause besetzen, meine Brüder für sich vereinnahmen und meine Sachen kaputtmachen.

Aber Axel antwortete mir mit wütender Stimme: „Ember, warum kannst du Willow nicht einfach akzeptieren? Ihr Vater ist bei dem Versuch, unsere Eltern zu retten, verbrannt. Sie ist sein einziges Fleisch und Blut und alles, worum er sich sorgte. Tut dir dein Gewissen nicht weh, wenn du diese Lügen erfindest?“

Danach war es zwischen uns nie wieder friedlich.

Vor einem Monat benutzte Willow erneut ihre alten Tricks und zerbrach meine Halskette, in der die Asche meiner Mutter aufbewahrt war. Ich jagte sie bis zur Treppe, verlor die Kontrolle und schlug ihr ins Gesicht. Sie ließ sich absichtlich die Treppe hinunterfallen. Als ich versuchte, sie noch zu packen, stürzte ich mit ihr.

Dabei verletzte ich mir meinen Arm und hatte Mühe, aufzustehen. Bevor ich etwas sagen konnte, schlug Axel mir zum ersten Mal in meinem Leben ins Gesicht.

Auch der sonst so sanfte und ruhige Ryker explodierte vor Wut: „Ember, wenn du nicht mit uns zusammenleben kannst, dann verschwinde!“

Sie brachten Willow ins Krankenhaus und ließen mich trotz meiner Verletzungen zurück.

Auf die Karibikreise, die sie mir versprochen hatten, nahmen sie zehn Jahre später stattdessen Willow mit.
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