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Kapitel 2

Author: Von Anonym
Mia legte die Essstäbchen weg und stand auf. Sie wollte diese heuchlerischen Lügen nicht länger hören.

Als Nico sah, dass sie gehen wollte, sprang er hastig auf und fragte in Gebärdensprache: „Was ist los?“

Mia schüttelte den Kopf und flüsterte.

„Ich bin müde. Ich möchte nach Hause und mich ausruhen.“

Ohne seine Reaktion abzuwarten, verließ sie direkt die Kabine.

Draußen auf der Straße fiel Mias Blick sofort auf die Leuchtreklame des gegenüberliegenden Bürohochhauses. Ein Heiratsantrag rollte über den Bildschirm.

„Mia, heirate mich!“, prangte drei Wörter in riesigen Lettern im Zentrum der Anzeige.

Vorbeigehende Passanten blieben stehen und seufzten bewundernd.

„Mein Gott! Habt ihr gehört? Herr Meyers Freundin ist taub. Darum hat er für seinen Antrag die Leuchttafel des höchsten Turms der Stadt gemietet – damit sie ‚Heirate mich!‘ klar sehen konnte. Nachdem sie ja sagte, lässt er das Video einen ganzen Monat laufen, damit alle ihren Segen geben!“

„Herr Meyer liebt sie wirklich abgöttisch. Sicher wird er ein wundervoller Ehemann.“

Mia, die Angesprochene, verzog nur spöttisch die Lippen.

Noch vor einer Woche hätte sie genauso reagiert wie diese Fremden – überzeugt von Nicos Liebe und seinem Eheversprechen.

Sie war im Waisenhaus aufgewachsen. Mit neun Jahren hatte hohes Fieber ihr Gehör geraubt, weil sie zu spät ins Krankenhaus kam.

Seither war sie zum Ziel von Spott und Grausamkeit im Heim und in der Schule geworden.

Tag für Tag hatte sie sich hinter einer Mauer aus Ablehnung verschanzt und ihr Herz verschlossen.

Dann war Nico erschienen. Er hatte sich auf den ersten Blick verliebt und um sie geworben.

Doch solche Gemeinheiten kannte sie. Sie mied ihn konsequent.

Neunundneunzig Geständnisse – neunundneunzig Ablehnungen.

Bis ein Erdbeben kam. Ohne Zögern hatte er sie mit seinem Körper geschützt. Selbst als eine Stahlstange seine Schulter durchbohrte, hielt er sie schützend umklammert.

Als er im Krankenhaus erwachte, geschwächt und verletzt, war seine erste Geste: „Hauptsache, dir geht es gut.“

Erst da erfuhr sie: Drei Monate lang hatte er heimlich Gebärdensprache gelernt, um mit ihr reden zu können.

In diesem Moment bekam die Mauer um ihr Herz ihren ersten Riss.

Später hinterließ die Stahlstange eine unverheilte, kreisrunde Narbe auf seinem Schulterblatt.

Jedes Mal, wenn sie diese braune Markierung sah, durchströmte sie tiefe Zuneigung.

Fünf Jahre lang hatte er sie so geliebt – kompromisslos und aufrichtig.

Selbst als die Meyer-Familie ihre Verbindung ablehnte, hielt er stand und machte ihr einen Antrag.

Um bei der Hochzeit sein „Ja“ hören zu können – und um ihn nicht zwischen Familie und ihr zerreißen zu lassen – hatte sie ein lebensgefährliches Ohr-OP-Risiko im Ausland auf sich genommen.

Das Schicksal war ihr gnädig. Die Operation gelang.

Sie beschloss, ihn am Hochzeitstag zu überraschen, und verschwieg ihr neues Gehör.

Schon oft hatte sie sich ausgemalt, wie überwältigt er reagieren würde.

Doch bei ihrer Rückkehr hörte sie Nico am Telefon – wie er schamlos mit seiner Assistentin flirtete.

Erst jetzt begriff Mia: Schon seit einem Jahr betrog er sie. Und sie, ahnungslos!

Ein stechender Schmerz durchfuhr ihr Herz. Sie krümmte sich zusammen, die Arme um sich geschlungen.

In der Kabine schwebten seine Wörter nach: „Das ändert nichts.“

Selbst vor der Hochzeit dachte er nicht ans Aufhören.

Glaubte Nico wirklich, ihre Taubheit würde ihn ewig schützen?

Eisiger Nachtwind peitschte über sie hinweg. Die Kälte drang bis in die Knochen – doch in Mias Geist wurde es klarer denn je.

Sie würde ihm beweisen: Jede Lüge fliegt auf.

Und Betrug? Den würde sie unter keinen Umständen akzeptieren.

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