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Kapitel 05

Author: Yara
Wie vom Blitz getroffen war ich regungslos.

Die Zeit schien stillzustehen. Jede Sekunde stach wie ein Messer in meine Augen und grub sich tief in meine Seele.

Ich sah mit an, wie Kellan sich hinabbeugte, wie seine Lippen Josephas Brust berührten, wie er wiederholt daran sog.

Bis Josepha ein zufriedenes Stöhnen entfuhr, ihre Finger sich in sein Haar gruben und sie keuchte: „Ah... auch hier...“

Kellan runzelte leicht die Stirn. „Ist es dort nicht verstopft?“

Josepha antwortete nicht, sondern schlang die Arme um seinen Nacken und drückte sein Gesicht gegen sich.

Kellan schwieg einen Moment, dann senkte er erneut den Kopf.

Ich konnte nicht länger zusehen, drehte mich um und stürzte hinaus in den Regen.

Der Regen prasselte auf mich herab, aber ich spürte keine Kälte. In meinem Kopf liefen die Bilder unserer ersten Nacht – wie vorsichtig er damals gewesen war, wie ehrfürchtig, wie er mir ins Ohr geflüstert hatte: „Aelis, du bist meine Erste – und die Letzte.“

Jetzt berührten seine Lippen eine andere Frau.

Mein Herz tat weh.

Schlimmer als jeder Hieb der Peitsche.

Ich ging in die Knie, kauerte mich in den Regen, bis meine Beine taub wurden.

Erst als in der Villa die Lichter ausging, schlich ich mich wie ein Geist, benommen und völlig entkräftet, zurück ins Haus, fand ein leeres Zimmer und legte mich schlafen.

In der Nacht kam das Fieber, heiß und plötzlich.

Im Halbschlaf hörte ich aus dem Hauptschlafzimmer Kellans tiefe, sanfte Stimme, wie er in der alten Sprache des Rudels ein Wiegenlied summte.

Er sang für Josepha und den Welpen in ihrem Leib – so wie er mir einst versprochen hatte:

„Wenn wir einmal ein Junges haben, werde ich es jeden Abend mit den Liedern unserer Ahnen in den Schlaf singen.“

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als mich eine Stimme weckte.

„Aelis?... Aelis?“

Ich öffnete mühsam die Augen. Kellan saß am Bett mit einer Schale Medizin.

„Wie konntest du so hohes Fieber bekommen?“

Er legte mir die Hand auf die Stirn, seine Berührung war so sanft wie früher.

Doch in meinem Kopf blitzte das Bild von vorhin auf, und ich wandte das Gesicht ab, um seiner Berührung zu entgehen.

„Aelis, die Medizin steht hier.“

Er zögerte und sprach mit mühsamer Stimme: „Josepha ist krank, schwanger und muss sich um den Welpen kümmern. Ich habe sie gebeten, vorübergehend bei uns zu wohnen. Die Hauptsuite ist vorerst für sie und das Kind. Du bleibst in den nächsten Tagen hier. Geh nicht hinaus – dein Fieber ist ansteckend. Ich werde die Tür verschließen lassen; der Butler bringt dir Essen und Medizin.“

Er wartete keine Antwort ab.

Dann verließ er hastig das Zimmer – zurück zu Josepha und dem Kind.

Als das Schloss in der Tür einrastete, liefen mir lautlos die Tränen über das Gesicht.

Wie lächerlich.

Früher war ich das, was er am meisten behütet hatte.

Jetzt war ich etwas, das er einsperren musste.

......

Vielleicht war es Josephas Wille, dass in den folgenden Tagen niemand kam.

Kein Wasser, kein Essen.

Das Fieber ließ nicht nach, mir war schwindlig, und dennoch hörte ich unentwegt fröhliche Stimmen und Gelächter von draußen.

Kellan und Josepha sahen sich einen alten Menschenfilm an – denselben, den er früher mit mir unzählige Male geschaut hatte.

Sie aßen im Wohnzimmer bei Kerzenlicht – so wie er mir früher jeden Monat selbst ein Abendessen gekocht hatte.

Und sie sprachen über Namen für das kommende Kind – so, wie er einst meinen Kopf an seine Schulter gelegt und gesagt hatte: „Aelis, wenn es ein Junge wird, soll er Logan heißen. Wenn es ein Mädchen wird, nennen wir sie Conna.“

Jetzt hörte ich ihn sagen: „Wenn es ein Männchen ist – Fenrir. Wenn ein Weibchen – Seraphina.“

Ich kauerte mich im Bett zusammen, biss fest in die Decke und unterdrückte jeden Laut, um nicht laut zu weinen.
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