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Kapitel 4

Author: Otto Welfen
Anna Hoffmann war fort, als Lena acht Jahre alt war. An diesem Tag war der Geburtstag ihres Vaters Friedrich Müller. Sie war voller Freude nach Hause gekommen, um ihren Vater zu feiern. Doch was sie erwartete, war lediglich der Scheidungsantrag ihrer Eltern.

Lena rannte hinter ihr her, stolperte die Treppe hinunter und fiel. Sie bemerkte nicht einmal, dass ihre Schuhe verloren gingen. Weinend umklammerte sie Annas Beine und schrie unentwegt: „Mama, geh nicht!“

Die elegante Frau strich sanft über ihr zartes Gesicht: „Es tut mir leid.“

„Mama, diesmal habe ich den ersten Platz in der Jahrgangsstufe belegt! Du hast meinen Test noch nicht gesehen,“

„Mama, bitte geh nicht, ich werde brav sein. Ich verspreche, dass ich nie wieder in den Freizeitpark gehe, ich werde dich nicht mehr ärgern, ich werde hören, was du sagst, bitte...“

In ihrer panischen Verzweiflung versuchte sie, Anna zu halten, in der Hoffnung, dass sie bleiben würde. Doch Anna sagte nur, dass ihre Ehe mit ihrem Vater nicht glücklich gewesen sei und dass sie nun ihr wahres Glück gefunden habe.

Lena sah, wie ein fremder Mann ihren Koffer in das Auto lud. Hand in Hand gingen sie davon.

Sie rannte barfuß mehrere hundert Meter hinterher, bis sie schwer zu Boden fiel. Ihre Knie und Fußsohlen waren blutig geschürft. Wie erstarrt starrte sie dem Auto hinterher, das sie niemals einholen konnte.

Zu dieser Zeit verstand sie es nicht, aber als sie älter wurde, erfuhr sie, dass ihre Mutter betrogen hatte und dass ihr Vater es herausgefunden hatte. Also forderte sie die Scheidung, verließ das Haus ohne einen Cent und ohne jegliches Eigentum, nicht einmal sie selbst.

Jahrzehntelang hatten sie keinen Kontakt, und Lena hasste sie zutiefst. Sie hatte sich geschworen, diese Frau niemals wiederzusehen.

Das Schicksal war wirklich grausam: Am Ende musste sie sich doch ausgerechnet an sie um Hilfe wenden.

Ihr Hals fühlte sich an, als ob er blockiert wäre, sie stand regungslos da. Anna, die wusste, was in ihr vorging, stand auf, zog Lena zu sich heran und setzte sich mit ihr zusammen.

„Ich weiß, dass du mich hasst“, sagte Anna. „Damals warst du noch zu klein, viele Dinge waren nicht so, wie du dir das vorstellst. Mama konnte dir nicht alles erklären.“

Anna strich sanft über ihr Gesicht. „Meine Tochter ist erwachsen geworden, Liebling. Ich komme diesmal zurück und werde langfristig bleiben. Ich weiß, dass es mit der Familie Müller Probleme gibt, aber keine Sorge, Mama wird gut auf dich aufpassen.“

Erst in diesem Moment erkannte Lena, dass der angebliche Hass mit einem einzigen „meine Tochter“ bedeutungslos war. Mit stockender Stimme sagte sie: „Mama.“

„Braves Mädchen“, antwortete Anna. „Bleib doch hier und iss mit uns. Dein Stiefvater Fischer hat sich in den letzten Jahren gut um mich gekümmert. Er hat eine Tochter, die zwei Jahre älter ist als du. Sie wird gleich mit ihrem Verlobten zum Abendessen kommen. Ich werde euch einander vorstellen.“

Lena hatte überhaupt nicht die Absicht, sich in ihr neues Zuhause einzufügen, und unterbrach hastig: „Mama, ich bin wegen Papas Angelegenheiten hier. Du weißt, dass die Familie Müller pleite war. Papa hat jetzt einen Herzinfarkt, und ich kann das Geld für die Operation nicht aufbringen. Kannst du mir bitte helfen? Ich verspreche, es dir später zurückzuzahlen.“

Bevor Anna antworten konnte, hörte Lena eine vertraute Stimme: „Frau Müller muss ja wirklich in großer Geldnot sein, dass sie sogar schon zu uns nach Hause kommt, um welches zu bitten.“

Als sie diese Stimme hörte, fühlte sich Lena wie vom Blitz getroffen. Ungläubig starrte sie auf die Personen im Türrahmen. Sind das nicht etwa Isabella und Otto?

Das Schicksal hatte ihr wieder einen Streich gespielt. Sie hätte nie gedacht, dass ihre Mutter Isabella tatsächlich ihre Stiefmutter geworden war!

Ihr eigener Mann, ihre Mutter war jetzt Teil ihrer Familie.

Gerade als sie ihrer Mutter um Geld bat, wurde Lena von Isabella und Otto in flagranti erwischt.

Ihre verlegene und unbeholfene Art entging Otto nicht. Doch er reagierte nicht, sondern betrachtete sie nur still.

Das Weinen eines Säuglings durchbrach die unangenehme Stille, und erst jetzt bemerkte Lena den Kinderwagen mit den Zwillingen, den die Dienstbotin vor sich herschob.

Kaum hatte das Baby zu weinen begonnen, hatte Otto bereits geschickt eines der Kinder in den Armen und wiegte es sanft.

Das Bild dieser vier glücklichen Familienmitglieder schnitt Lena wie ein schmerzhafter Stich ins Herz. Wenn ihr eigenes Kind noch am Leben wäre, wäre es jetzt auch so groß.

Sie begann, sich zu fragen, warum sie überhaupt hierher gekommen war. Es fühlte sich an, als wäre sie auf einem Schandpfahl festgenagelt und würde einer Folter gleichziehenden Qual ausgesetzt.

Seltsamerweise ließ sich das Kind heute partout nicht beruhigen. Die Dienerin beeilte sich, eine Flasche Milch zuzubereiten und zu bringen, doch das Baby schrie nur noch lauter.

Mit geduldiger Stimme versuchte Otto es weiter zu beruhigen: „Braves Mädchen, hör auf zu weinen.“

Ein so großer Mann, der ein kleines Baby hielt, wirkte ungewöhnlich zärtlich. In dem Moment, in dem er so sanft und geduldig mit dem Kind umging, stieg plötzlich ein Gedanke in Lena auf.

Sie stand auf und machte schnellen Schritten auf Otto zu. Ohne zu zögern riss sie ihm das Kind aus den Armen, und zu ihrer Überraschung hielt er sie nicht auf. Noch merkwürdiger war, dass das Baby sofort aufhörte zu weinen, als sie es in den Armen hielt, und stattdessen ein Lächeln zeigte.

Das fast einjährige Kind hatte bereits ausgeprägte Gesichtszüge. Es lächelte mit rosigen, vollen Bäckchen, kicherte „gigi“ und brabbelte undeutlich: „Mama~“.

Mit seinen kleinen Händen griff das Baby nach dem Pompon auf ihrem Hut. Seine Augen strahlten vor Freude. Es sah genau wie Otto aus.

Lena fühlte, als würde ihr Herz von einem scharfen Messer durchbohrt. Ihre letzten Widerstände wurden aufgerissen und in Stücke zerrissen.

Sie hatte einst naiv geglaubt, dass Otto sie wirklich liebte. Im ersten Jahr ihrer Ehe war er wirklich sehr, sehr gut zu ihr.

Mitten in der Nacht wiegte er sie sanft in seinen Armen und flüsterte ihr leise ins Ohr: „Lena, schenke mir ein Kind.“

Was er sich wünschte, konnte sie ihm doch nicht verweigern. Selbst wenn sie noch nicht einmal ihren Abschluss gemacht hatte, war sie ohne zu zögern schwanger geworden.

Jetzt erst wurde ihr klar: In all der Zeit, in der er ihr Zärtlichkeiten entgegenbrachte und mit ihr schmuste, hatte er sie betrogen. Jedes Mal, wenn er geschäftlich im Ausland war, musterte er sich mit einer anderen Frau.

Ihr Magen krampfte sich zusammen. Lena warf Otto das Kind zu, drehte sich um und rannte, ohne sich umzusehen, ins Badezimmer und schloss die Tür ab.

Sie hatte kaum etwas gegessen, und als sie sich übergab, kam nur ein gemischtes Brechgemisch aus Blut. Große, leuchtend rote Blutmengen brannten ihre Augen.

Tränen liefen unaufhaltsam über ihr Gesicht. Gut, wirklich gut...

Ihre Ehe war von Anfang an ein Witz!

All die unerklärlichen Dinge ergaben plötzlich einen Sinn. Es hatte ja schon lange Anzeichen dafür gegeben.

Warum sprang er zu Isabella, als beide im Wasser lagen? Warum blieb er bei Isabellas Frühgeburt? Weil das Kind in ihrem Bauch auch Ottos Kind war!

Es dauerte eine Weile, bis ein Klopfen an der Tür zu hören war.

„Lena, geht es dir gut?“

Lena richtete das Chaos, wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser und taumelte dann nach draußen.

Anna, die die Verwicklungen zwischen den beiden nicht kannte, ergriff besorgt ihre Hand und fragte: „Lena, fühlst du dich nicht gut?“

„Es ist nur, weil ich diese beiden Leute gesehen habe. Es ist einfach ekelhaft. Nachdem ich mich übergeben habe, fühle ich mich viel besser.“

„Lena, kennst du Isabella? Sie war immer im Ausland. Gibt es vielleicht ein Missverständnis zwischen euch? Und dieser Herr hier ist Otto...“

Lena unterbrach Anna kalt: „Ich weiß schon, Otto Welfen, der CEO der Welfen-Gruppe. Wer kennt ihn nicht?“

„Ja, Herr Welfen ist jung und erfolgreich, hat in so jungen Jahren schon so viel erreicht.“

„Herr Welfen ist in der Tat beeindruckend. Noch bevor er geschieden ist, drängt er sich schon in eine neue Ehe. So eine Dreistigkeit hat nicht jeder!“

Diese Worte ließen Anna völlig verblüfft zurück. „Lena, was redest du da? Herr Welfen ist doch noch gar nicht verheiratet. Wovon sprichst du da von Scheidung?“

Lena verzog ihre Lippen zu einem sarkastischen Lächeln: „Er ist also nicht verheiratet, dann was bin ich für ihn? Herr Welfen, sag der Mama doch, was ich für Sie bin?“
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