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Kapitel 2

Author: Jasmin
Einen ganzen Tag lag ich im Krankenhaus, aber Ben kam nicht.

Am zweiten Tag, als ich nach meiner alleinigen Entlassung aus dem Krankenhaus am VIP-Zimmer vorbeikam, sah ich einen Anblick, der mir schmerzhaft ins Herz traf.

Mein Bruder und mein Vater waren bei Emilia.

Der eine fütterte sie mit Obst, der andere schaltete den Fernseher ein und wählte eine Komödie aus, die sie mochte.

Währenddessen besprach Ben mit ihrem behandelnden Arzt ernsthaft den Behandlungsplan.

Emilia zupfte an Bens Ärmel und deutete auf eine Schokolade. Ben öffnete die Verpackung und fütterte sie damit.

Beim Anblick dieser harmonischen Szene durchbohrte ein scharfer Schmerz mein Herz.

Sie waren eine Familie, während ich die Außenseiterin war.

Ich erinnerte mich, wie Emilia und ich als Kinder gleichzeitig mit Lungenentzündung im Krankenhaus lagen.

Mein Bruder und mein Vater hatten sich eifrig um ihr Krankenbett gekümmert.

Ich jedoch lag allein in einem kalten Krankenzimmer, ohne jede Betreuung. Ich war so durstig, dass meine Lippen rissig wurden und bluteten, ohne dass es jemand bemerkte. Schließlich gab mir eine Krankenschwester ein Glas Wasser.

Solche Vernachlässigungen hatte ich seit meiner Kindheit unzählige Male erlebt.

Erst nach meiner Heirat mit Ben erfuhr ich endlich Liebe. Er war umsorgend und aufmerksam, alle guten Dinge gab er mir.

Ich hatte immer geglaubt, ich sei Bens einzigartige Liebe. Umso überraschter war ich, dass er auch Emilia gegenüber so fürsorglich war. Die Art, wie er sie behutsam mit Schokolade fütterte, war so zärtlich.

Ich wischte meine Tränen ab, drehte mich um und ging nach Hause.

Ich rief meinen Universitätsprofessor an und sagte ihm zu, an dem abgeschirmten Forschungsprojekt des nordischen Forschungsinstituts teilzunehmen – selbst unter der Bedingung, zehn Jahre nicht nach Hause zurückzukehren.

Mein Professor buchte mir ein Flugticket für drei Tage später.

Er riet mir, mich von meiner Familie gebührend zu verabschieden, schließlich würde ich zehn Jahre lang nicht zurückkehren.

Kaum hatte ich aufgelegt, kam Ben nach Hause. Er legte seinen Arm um meine Taille und fragte mich liebevoll:

„Was für ein Ticket hast du gerade gebucht?“

„Die Tickets für die Oper, die ich vorher gebucht hatte. Wegen meines Krankenhausaufenthalts konnte ich nicht gehen, also habe ich eine Stornierung beantragt.“

„Ach so? Aber warum hast du die Entlassung aus dem Krankenhaus ganz allein geregelt, ohne mich abholen zu lassen?“

Bevor ich erklären konnte, kam Emilia herein.

„Lena, das ist wirklich unverantwortlich von dir! Du lässt dich entlassen, ohne deinem Mann Bescheid zu sagen! Als wir dein Krankenzimmer leer vorfanden, war er außer sich vor Sorge, dass dir etwas zugestoßen sein könnte!“

„Er ist schließlich der Mafia-Boss! Viele rivalisierende Organisationen haben es auf ihn abgesehen! Er dachte schon, du wärst von seinen Gegnern entführt worden!“

Ich sah Emilia an. Sie verstand es stets meisterhaft, mir die absurdesten Vorwürfe anzuhängen – so war es schon seit unserer Kindheit. Und jetzt unterstellte sie mir schon wieder, unvernünftig zu sein.

Ich blickte zu Ben auf. Sofort beeilte er sich zu erklären:

„Emilia geht es gesundheitlich nicht gut. Der Arzt hat empfohlen, dass sie sich zu Hause erholen soll. Unser Schloss mit seinem natürlichen Wald und der sauberen Luft bietet die perfekte Umgebung. Also soll sie ein paar Tage bei uns wohnen.“

„Lena, tut mir leid, dass ich damit in die Zweisamkeit von dir und deinem Mann platze.“

Emilia warf mir einen selbstgefälligen Blick zu.

Sie erwartete, dass ich die Beherrschung verlor – damit sie mir wieder mit jener scheinheiligen Opferrolle Vorwürfe machen könnte, ich sei launisch, unvernünftig und tyrannisch.

Eine ihrer bewährten Taktiken.

Doch ich blieb gelassen. „Du kannst so lange bleiben, wie du möchtest.“

Emilia stutzte, sichtlich überrascht von meiner unerwarteten Reaktion.

...

Am nächsten Tag wies Ben die Dienstboten an, ein Zimmer für Emilia herzurichten. Er gab detaillierte Anweisungen zu ihren Ernährungsbedürfnissen.

Offenbar kannte Ben nicht nur alle meine Vorlieben, sondern auch Emilias Gewohnheiten genau.

Ich schloss die Augen und fühlte mich lächerlich. Warum war mir erst heute aufgefallen, wie sehr Ben sich um Emilia kümmerte?

Abends ging ich früh auf mein Zimmer, um meine Sachen für die Abreise zu packen. Gerade als ich mich schlafen legen wollte, öffnete Ben die Tür. Er brachte ein Glas Wasser und öffnete liebevoll die Flasche mit den Kalziumtabletten für mich.

„Nimm deine Kalziumtabletten, bevor du schlafen gehst. Sonst wirst du nachts wieder Wadenkrämpfe bekommen.“

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